Der Generalsekretär und CEO des größten Industrieverbands der Türkei (TÜSIAD), Dr. Bahadir Kaleagasi, hat in Wien bei der Einladung der Think Tank Organisation, Türkische Kulturgemeinde in Österreich (TKG), über die Beziehungen zwischen Österreich-Türkei und Türkei-EU mit mehreren PolitikerInnen, Industriellen, Journalisten und Experten gesprochen.
TÜSIAD ist die liberale Wirtschaftslobby in der Türkei und deckt mit seinen 4000 Unternehmen 80% des türkischen Außenhandels ab. TÜSIAD Mitglieder bringen mehr als 80% von Gewerbe- und Körperschaftsteuern auf.
Kaleagasi beantwortete die Fragen der Türkischen KULTURgemeinde (TKG) in Österreich wie folgt:
Herzlich willkommen in Wien, Herr Generalsekretär aus Istanbul. Wie beurteilen Sie die derzeitigen Beziehungen zwischen Österreich und der Türkei?
Kaleagasi: Vielen herzlichen Dank. Ich glaube, die politischen Differenzen konnten in vielen kritischen Wendepunkten der Geschichte mit einem klaren Kopf, besonnener Rhetorik und kreativen Strategien überwunden werden. Wie Sie auch wissen, ist der globale Wandel beschleunigt. Zu den wichtigen globalen Veränderungsprozessen zählen u.a. Asiens Aufstieg, die ungewöhnliche Präsidentschaftserfahrung in den USA und der fortschreitende Klimawandel. Vielleicht am wichtigsten in historischer Perspektive ist auch die vierte industrielle Revolution, Digitalisierung, grüne Energie, Neurowissenschaften… In diesem Zusammenhang ist die Schnittmenge der realen Agenda in Österreich und der Türkei klar: Energie, Technologie, Handel, Migration und Sicherheit. Als europäische Geschäftswelt teilen wir eine gemeinsame Vision: ein demokratischeres, sichereres und wettbewerbsfähigeres Europa. Österreich und die Türkei haben beide das Know-how und die Erfahrung, einen konkreten Beitrag zu der Realisierung dieser Vision zu leisten.
Welche Erfahrungen haben Sie mit Österreichern in der Türkei gemacht? Was verbindet Österreich und die Türkei in der Frühgeschichte?
Kaleagasi: Stets positiv. Ich liebe Österreich, weil Österreich aus der wechselvollen Geschichte der letzten Jahrhunderte sehr viel gelernt hat und der demokratische Rechtsstaat als oberstes Gebot angenommen wurde. Österreich kann sich im Bereich Rechtsstaat, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und mit einem unglaublichen Umweltbewusstsein vorbildlich in der Welt behaupten. Respekt. Man sollte dennoch jeden Tag auf die demokratischen Grundwerte achtsam sein. Ich habe in der Türkei, von den österreichischen Unternehmen, immer kreative und soziale Verantwortlichkeit erlebt. Touristen verstärken auch das Image Österreichs; sie sind bei Themen wie Geschichte und Natur immer neugierig, aber auch respektvoll. ÖsterreicherInnen und TürkenInnen verbindet eine intensive fünfhundertjährige Begegnung sowie Wahrnehmung mit Höhen und Tiefen. Wir haben mit dem TKG-Obmann, Herrn Birol Kilic, einen sehr konstruktiven, positiven Überblick über die Menschen in Österreich und allgemein über die wechselhafte Geschichte Österreichs, dessen Innovationen und dem Staat allgemein bekommen. Daher denken wir, dass wir mit mehr Empathie reagieren sollten. Genau das gleiche erwarten wir auch von österreichischer Seite. Man muss die einzigartigen, modernen, säkularen Menschen und ihren Glauben an den Rechtsstaat, die Pressefreiheit, die Menschenrechte und die allgemeinen Werte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sowie den Glauben an die Unantastbarkeit der Menschenwürde immer im Auge behalten. Für uns bedeutet die EU und Österreich die gemeinsame Verteidigung dieser Werte. Wir bitten hier in aller Höflichkeit, die Türkei aus Ihrer Innenpolitik herauszuhalten und uns für die Werte zu unterstützen. Wir haben auch von Herrn Kilic Folgendes erfahren, was nicht vergessen werden sollte: 1923 gründete Mustafa Kemal Atatürk die Republik Türkei. An der Gestaltung des Regierungsviertels der neuen Hauptstadt Ankara wirkten zahlreiche österreichische Architekten, unter ihnen Clemens Holzmeister, mit. Zu Holzmeisters wichtigsten 15 Bauten gehören das Parlament, der Präsidentenpalast, einige Ministerien und Banken sowie das Gebäude der österreichischen Botschaft. Der Bildhauer Heinrich Krippel schuf das berühmte Reiterstandbild „Atatürks in Samsun“. Auch heute sind die aktuelle Architektur und Fragen des modernen, energieeffizienten Wohn- und Sozialwohnbaus wichtige Themen im Dialog zwischen Österreich und der Türkei. Es gibt noch sehr vieles hier als Beispiel.
Was erwarten Sie von der österreichischen Bundesregierung?
Kaleagasi: Nicht nur von der österreichischen Bundesregierung, sondern von allen EU-Mitgliedstaaten und natürlich und vor allem auch von unserem Land, der Türkei, erwarten wir, dass sie rationale und strategische Politik generieren, ohne kurzfristige taktische Fehler zu begehen.
Was meinen Sie damit genau?
Kaleagasi: Wenn wir uns die EU-Türkei-Integrations-Partnerschaft anschauen, gibt es greifbare Themen, bei welchen man konkrete Fortschritte erzielen kann: die Modernisierung der seit 01.01.1996 bestehenden Zollunion zwischen der EU und der Türkei, die digitale Wirtschaft, Energie, Sicherheit, Migration und die Bekämpfung des Klimawandels. Eine Harmonisierung und ein gemeinsames Vorankommen in all diesen Bereichen würden einen wesentlichen Beitrag zum Frieden, zur Sicherheit und zum Wohlstand aller europäischen Bürger leisten.
Die Türkei kann bereits durch die Zollunion seit 1. Jänner 1996 als privilegierter Partner betrachtet werden. Gibt es Ihrer Meinung nach noch Verbesserungswünsche, ohne dass die Türkei Vollmitglied der EU sein muss?
Kaleagasi: Wir müssen hier in aller Freundschaft etwas unterstreichen. Die privilegierte Partnerschaft funktioniert zunächst nur, wenn sie vorübergehend ist. Das Dilemma, welches das Vereinigte Königreich derzeit bei Brexit-Verhandlungen erlebt, ist ein Beweis dafür. Zweitens sollte die EU in einer sich ausweitenden, globalen Ordnung nicht schrumpfen. Im Gegenteil, sie sollte einen größeren Bereich von Demokratie, Wirtschaft und Sicherheit darstellen. Sie sollte auch ein besser funktionierendes Governancesystem, d.h. politische Steuerung und Koordination haben. Außerdem wird die Vollmitgliedschaft in der EU in naher Zukunft von einem Modell der sogenannten „differenzierten Integration“ abhängen.
Was bedeutet „differenzierte Integration“ in der EU und die Vollmitgliedschaft in der EU für die Türkei?
Kaleagasi: Ganz einfach. In der Mitte befindet sich dann eine eher föderale Kern-EU, die Eurozone. Rundherum ein breiterer EU-Kreis. Die Türkei wird ein EU-Mitglied in diesem flexiblen Modell sein; natürlich soweit sie alle notwendigen demokratischen und rechtlichen Bedingungen erfüllen kann. Priorität für heute ist, zum Thema Vollmitgliedschaft der Türkei, für die Reifezeit der Bedingungen abzuwarten und sich in der Zwischenzeit auf konkrete Bereiche zu konzentrieren, wie zum Beispiel die Modernisierung der bestehenden Zollunion, Energie, digitaler Binnenmarkt, innere und äußere Sicherheit… Das wäre zum Vorteil Österreichs und auch zugunsten der Werte und Interessen der EU-BürgerInnen und der BürgerInnen der Türkei. In diesem Sinne müssen Politiker in allen europäischen Hauptstädten ehrlich, weise und visionär handeln.
Welche Branchen profitieren am meisten von den Handelsbeziehungen?
Kaleagasi: Eigentlich alle. Entscheidend ist, dass Unternehmen globale Trends, digitale Transformation und lokales Marketing gut verstehen können. Die Türkei ist ein europäisches Land, welches sich der EU-Binnenmarktvorschriften zum großen Teil angepasst hat. Zur gleichen Zeit hat die Türkei einen gewissen asiatischen, dynamischen Unternehmergeist. Die Türkei ist Europas europäisch-asiatisches Tor. Diejenigen Unternehmen, die das richtig verstehen und interpretieren können, machen immer lukrative Geschäfte.
Haben Ihre Mitglieder auch in Österreich Investitionen getätigt?
Kaleagasi: Ja, aber im Vergleich zu anderen EU-Ländern weniger. Zu deren Erhöhung würde die Aktualisierung bzw. Modernisierung der türkischen Zollunion mit der EU, hervorragende Möglichkeiten schaffen. Dadurch werden neue Investitionen und Beschäftigungen auf beiden Seiten zunehmen.
Glauben Sie, dass sich die Türkei von derzeitigen wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Schwierigkeiten in absehbarer Zeit erholen wird?
Kaleagasi: Ja. Auf kurze Sicht geht es vor allem um einen dringenden Aktionsplan, der den Anforderungen des 21. Jahrhunderts entspricht. Im Mittelpunkt dieser Vorschläge muss eine straffe Geldpolitik, eine Fiskalpolitik, mit zugehörigen Sparmaßnahmen, gezielt auf eine rückläufige Inflationsrate, bessere Beziehungen zur EU und die Lösung bestehender Probleme mit den USA, im Rahmen der strategischen Partnerschaft, stehen. Implementiert die Türkei die erforderlichen Maßnahmen in Bereichen wie Steuern, Arbeitsmärkte, Energie und Ausbildung durch eine ehrgeizige Strukturreformagenda und setzt wieder Demokratisierung als Priorität an die Tagesordnung, kehrt sie schnell zurück zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum und sozialer Entwicklung.
Die Türkei ist für die EU und Österreich wichtig sagen Sie. Warum?
Kaleagasi: Eine stabile Türkei ist sehr wichtig für ein stabiles Europa und vor allem für Österreich. Eine instabile Türkei exportiert auch Instabilität. Alle europäischen Länder sind eigentlich wichtig füreinander. Eine EU, die sich in einer multipolaren Welt stärkt, ist nur durch eine erweiterte EU möglich, die ihren Einfluss ausbaut. Eine Innovationsgemeinschaft, die dem Geist des 21. Jahrhunderts entspricht, braucht eine diversifizierte EU mit Zuversicht. Nur eine EU, die ihre eigenen Transformationsmaßnahmen betreibt und ihren Einflussbereich erweitert, kann als ein Vorbild im Mittelpunkt für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und Grundfreiheiten in der Welt agieren. Nur eine solche EU kann zu den Regulatoren für Technologien der künstlichen Intelligenz gehören. Die jüngste Geschichte zeigt, dass es immer positive Ergebnisse für die Bürger beider Seiten gebracht hat, die Türkei im europäischen Integrationsprozess zu halten. Das ist eine faktische Realität. Etwas anderes zu tun, um die Türkei vom positiven Einfluss der EU fernzuhalten, war immer ein Teil des Problems. Das ist auch eine datenbasierte Realität. Für ein wohlhabenderes und sicheres Europa ist und bleibt die Türkei Europas südöstlicher Pfeiler.
Welche Tipps geben Sie Investoren, die dort investieren wollen?
Kaleagasi: Kombinieren Sie globale, europäische und österreichische Ansätze mit den mittelfristigen Potenzialen der Türkei. Wir sind hier, um Sie dabei zu unterstützen und objektiv durch Herausforderungen, Risiken und Chancen zu führen.
Vielen Dank.
Info und Links:
TÜSİAD ist der größte Verband in der Türkei, als Interessensvertreter des Privatsektors des Landes. Die Mitglieder der TÜSIAD sind türkische und internationale Unternehmen. TÜSİAD ist Mitglied der European Business Confederation BusinessEurope und der Global Business Coalition parallel zur G20. Neben dem Hauptstadtbüro in Ankara besitzt TÜSİAD ein Netzwerk von sechs Auslandsrepräsentanzen in Brüssel, London, Paris, Berlin und Washington, D.C. sowie Business-Netzwerke in China, Golfregion und Silicon Valley.
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Dr. Bahadir Kaleagasi