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„Menschlichkeit ist stärker als Hass“

IKG und US-Botschaft gedenken gemeinsam den Opfern von Pittsburgh

Rund 250 Menschen waren am Freitag dem Aufruf von IKG und U.S. Embassy Vienna in den Wiener Stadttempel gefolgt, um den Opfern von Pittsburgh zu gedenken. Diese 11 Menschen mussten sterben, nur weil sie in der Tree-of-Life-Synagoge gebetet haben.

Wien. Die berührende Zeremonie in der Seitenstettengasse haben neben Präsident Oskar Deutsch, Oberrabbiner Arie Folger, Oberkantor Shmuel Barzilai, Charge d’affaires der USA Steve Hubler und der Chor des Stadttempels mitgestaltet. Zahlreiche Botschafterinnen und Botschafter europäischer Staaten wohnten der Zeremonie bei, ebenso wie Staatssekretärin Karoline Edtstadler und die Türkische KULTURgemeinde in Österreich.

Hier ein Auszug aus der Rede von IKG-Präsident Oskar Deutsch:

Sehr geehrte Damen und Herren!

Es waren Juden – wie wir.
Es war eine Synagoge – wie diese.
Elf Menschen wurden ermordet, weil sie Juden waren
– weil sie am Shabbat in ihrer Synagoge waren.

Der Talmud sagt: „Kol Israel Eravim Se Lase“
– „Alle Juden sind füreinander verantwortlich.“
Egal wo Jüdinnen und Juden angegriffen werden – wir fühlen nicht nur mit ihnen, es ist wie ein Angriff auf uns selbst, auf unsere Familie.
Aber das Leid der Hinterbliebenen in Pittsburgh können wir nicht nachempfinden. Die Lücke, die der Attentäter über die jüdische Gemeinde in Pittsburgh gebracht hat, ist in Worten nicht zu beschreiben.

80 Jahre nach den Novemberpogromen müssen wir feststellen, dass der Hass immer noch gedeiht.
Diesmal kam er aus dem rechtsextremen Eck, eine Ecke, die einzelne gerne verharmlosen – auch bei uns in Österreich.
Ob rechtsextrem, linksextrem oder islamistisch – der Antisemitismus in den Worten verwandelt sich wieder und wieder in einen Antisemitismus der Taten. Dieser Hass ist tödlich.

Weltweit gedeiht der Hass. Antisemitische Verschwörungstheorien haben Konjunktur. Der Jude wird als Bösewicht dargestellt. Nur wird er heute oft anders genannt, der Antisemitismus wird verschleiert.

Früher wurde „der Jude“ als Schädling bezeichnet, heute wird Jude durch „Israel“ ersetzt.

Früher wurden Juden einer Weltverschwörung bezichtigt, nach der Shoah gingen Antisemiten zu Codes über: Das Feindbild „Rothschild“ heißt heute „Soros“.

Früher wurde gegen Juden als Ritualmörder gehetzt, heute wird das Schächten als Ritualmord dämonisiert.

Dass wir heute gemeinsam mit Freunden der US-Botschaft und unserer Gemeinde gedenken – ist ein wichtiges Zeichen.
Wir tun das, weil wir als Menschen zusammenstehen, weil Menschlichkeit stärker als Hass ist.

Hass ist nicht nur ein schnell dahingeschriebenes Facebook-Posting oder ein Tweet. Hass kann töten. Daran erinnert der Anschlag von Pittsburgh.

Der Mörder von Pittsburgh war auf rechtsextremen Plattformen unterwegs. Dort wurde auch sein Hass genährt.

Nächste Woche jähren sich die Novemberpogrome zum 80. Mal. Im Jahr 1938 waren sie der Auftakt zur Schoah.

Wieder werden wir sagen: „Nie wieder“
Wieder werden wir fordern: „Niemals vergessen“
Aber was tun wir? Was tut die Politik, die Staatengemeinschaft, die Medien?

Die Jüdische Gemeinde mahnt. Wir sind laut. Wir treten gegen jede Form des Hasses auf, gegen Antisemitismus und gegen Rassismus.
– weil wir in den Jahrtausenden der jüdischen Geschichte ein feines Sensorium für gesellschaftliche Fehlentwicklungen bekommen haben.

Vor 37 Jahren, am 29. August 1981, haben zwei palästinensische Terroristen diesen Stadttempel angegriffen. Zwei Menschen starben.
Schon zwei Jahre zuvor gab es einen versuchten Anschlag in Wien. Und in ganz Europa gab es in den 1970er -Jahren mehrere Attentate gegen Israelis, gegen Juden.

Die jüdischen Gemeinden in Europa haben ihre Konsequenzen gezogen und massiv in Sicherheit investiert.
Heute, 80 Jahre nach den Novemberpogromen, sind jüdische Gemeinden professionell geschützt. Eigene Sicherheitsleute, die Polizei – ohne diesen Maßnahmen ist jüdisches Leben in Europa kaum vorstellbar.

In den USA war das bisher anders. Aber anstatt dass wir dem US-Beispiel folgen können, müssen amerikanische Gemeinden darüber nachdenken, wie sie ihre Mitglieder besser schützen können, sie müssen dem europäischen Beispiel folgen. Das ist doch absurd.

Diesmal war es ein rechtsextremer Antisemit. In Europa waren es in den vergangenen Jahren verstärkt muslimische Judenhasser
– Toulouse 2012, Burgas 2012, Brüssel 2014, Kopenhagen und Paris 2015.

Egal von welcher Seite Antisemitismus kommt, er ist nicht mehr oder weniger schlimm als der andere. Es gibt kein Ranking! Es ist dieselbe Feindseligkeit, die, wenn sie nicht bekämpft wird, tödlich endet.

Wir alle – Juden, Christen, Muslime, Agnostiker, Atheisten und Andersgläubige – wir alle müssen aufstehen, wir alle müssen Menschlichkeit in den Mittelpunkt rücken – und wir dürfen nicht wegschauen.
Um es mit Elie Wiesels Worten zu sagen: „Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit.“

Shabbat Shalom!

Quelle: IKG

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