Die Türkische KULTURgemeinde in Österreich (TKG) und die Verfassungsexperten des Europarates („Venedig-Kommission“) warnen vor einem Ein-Personen-Regime und vor der Abschaffung der Demokratie in der Türkei die Gegenstand eines Referendums am 16. April 2017 ist.
TKG möchte hiermit als streitbare, wehrhafte Demokraten mit sachlichen Argumenten ihr Nein zur Abschaffung der Demokratie in der Türkei positionieren.
Integration bedeutet mehr als Pass und Sprache, sie erfordert eine Citoyen-Identität, sowie eine demokratische Identität. Für die TKG bezeichnet der Citoyen den Bürger bzw. Staatsbürger, der in der Tradition und im Geist der Aufklärung aktiv und eigenverantwortlich am Gemeinwesen EU teilnimmt und dieses mitgestaltet.
Vorsicht: Gewaltenteilung aufgehoben
Die Experten und die Türkische KULTURgemeinde in Österreich weisen auf die Gefahr hin, dass die Verfassungsänderung durch den Abbau der nötigen Kontrollmöglichkeiten („Checks and Balances“) nicht dem Modell eines demokratischen Präsidialsystems entspricht( USA, Frankreich), das auf der Gewaltentrennung basiert.
Die Befugnisse des Präsidenten werden so ausgeweitet, dass er die Exekutive, Legislative und Judikative kontrolliert, womit die Gewaltenteilung aufgehoben wird.
Vielmehr bestehe das Risiko, dass sich ein autoritäres Präsidialsystem entwickelt. Zu den in der Schlussfolgerung geäußerten Bedenken zählen folgende Punkte:
1) Der Präsident wird zum Chef der Exekutive. Das Ministerpräsidentenamt und der Ministerrat werden mit Streichung des Artikels 109 abgeschafft. Stattdessen ermächtigt der ergänzte Artikel 104 den Präsidenten, den Vizepräsidenten und den Minister zu berufen (er kann als Vizepräsidenten jeden ernennen) und zu entlassen. Die Minister werden nicht mehr vom Parlament, sondern vom Staatspräsidenten kontrolliert. Das bedeutet: Alleinige Ausübung der exekutiven Gewalt durch den neuen Präsidenten mit nicht kontrollierter Befugnis zur Ernennung und Entlassung von Ministern und hohen Beamten auf Grundlage von Kriterien, die nur der Präsident festlegt.
2) Der Staatshaushalt wird nicht mehr vom Ministerrat (Artikel 162 wird aufgehoben) dem Parlament vorgelegt, sondern vom Staatspräsidenten (neuer Artikel 161). Die nationale Sicherheitspolitik wird vom Ministerrat auf den Staatspräsidenten übertragen (Änderungen der Artikel 104, 117 und 118).
3) Der Ausnahmezustand wird nicht mehr vom Parlament (Artikel 120 wird abgeschafft), sondern künftig vom Staatspräsidenten ausgerufen (Artikel 120). Es wird hier der Anschein erweckt, die Gesamtdauer des Ausnahmezustandes werde auf insgesamt 10 Monate beschränkt. Diese zeitliche Beschränkung entfällt jedoch im Kriegsfall. Das legt die Befürchtung nahe, dass der Präsident bereits einen Krieg ins Auge gefasst hat.
4) Die Verfassungsänderungen sehen folglich vor, die exekutiven Kompetenzen des Staatspräsidenten in einem starken Maße auszuweiten. Der Staatspräsident soll darüber hinaus einen Zugriff auf die Legislative bekommen, der dem Gedanken der Gewaltenteilung widerspricht.
5) Das Parlament darf Minister nicht mehr mündlich befragen (Art. 105). Das Parlament kann die neue Regierung nicht mehr mit einem Vertrauensvotum bestätigen (Art. 110).
6) Ein Misstrauensvotum gegenüber der Regierung ist nicht mehr möglich (Art. 109 wird abgeschafft)
7) Dekrete mit Gesetzeskraft (Art. 87) werden nicht mehr vom Parlament, sondern vom Staatspräsidenten verabschiedet (Art. 104). Der Präsident hat die Befugnis, aus einem beliebigen Grund das Parlament aufzulösen, was grundsätzlich unvereinbar mit einem demokratischen Präsidialsystem ist. Außerdem eine weitere Schwächung der bereits unzureichenden Möglichkeiten, die der Justiz zur Kontrolle der Exekutive zur Verfügung stehen, sowie die weitere Schwächung der Unabhängigkeit der Justiz.
8) Der Staatspräsident muss nicht mehr seine Parteizugehörigkeit (Art. 101) ablegen. Das bedeutet, dass der Präsident auch Mitglied oder gar Vorsitzender einer Partei ist, wodurch er einen unzulässigen Einfluss auf die Gesetzgebung erhält. Da der Präsident und das Parlament am gleichen Tag gewählt werden und den türkischen Parteien die innerparteiliche Demokratie weitgehend fremd ist, wird die größte Fraktion im Parlament vom Präsidenten bestimmt.
9) Mit dem Referendum von 2010 hat Erdogan durchgesetzt, dass die Zahl der Mitglieder des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte von 7 auf 22 erhöht wurden (Art. 159). Somit konnte Erdogan seine Leute in dieses Gremium implementieren. Jetzt will er den Rat auf 13 Mitglieder verkleinern und weitgehend von sich und seiner Fraktion im Parlament bestimmen lassen.
10) 12 von 15 Mitgliedern des Verfassungsgerichtes werden vom Präsidenten und drei von seiner Partei im Parlament bestimmt. Während die Macht und Immunität des Staatspräsidenten maßlos ausgebaut werden, wird seine Rechenschaftspflicht vor dem Verfassungsgericht durch die von ihm gewählte Richterschaft ausgeschaltet.
Es ist die Pflicht aller Bürger, ihre Demokratie zu verteidigen, weil durch die Abschaffung der Demokratie die Türkei leider sehr traurige Zeiten erwartet, die in nächster Zeit Auswirkungen auf Österreich, Deutschland und die gesamte EU haben wird.
Türkische KULTURgemeinde in Österreich
Obmann
DI Birol Kilic